Soziale Fortschrittsklausel

Genauso könnte man ein „Gutes Abiturssdurchschnitts-Gesetz“ verabschieden. Mir fällt in letzter Zeit öfters auf Wahlplakaten auf, dass diese sich den ihnen zugedachten Satiren nicht nur annähern, sondern abbilden. Dazu zählt gerade das Plakat der Grünen zur Europawahl mit dem Slogan „Mach, was zählt!“, was ursprünglich eine satirische Verkürzung für die Bundeswehr war, aber auch die Linke hatte letztes Jahr ein Wahlplakat, „jedem Bürger soll es gut gehen“, was mich an die Berliner Kleene Punker-Partei erinnerte: „Jeda Bürger soll et dufte haben“. Während man also Schuldenbremsen in parlamentarischen Gesetzen verankert, um wenigstens ein bisschen sicherzustellen, dass eine spätere Regierung nicht komplett den Staat in den Ruin verschuldet, möchte man also eine Art „Soziale Fortschrittsklausel“ haben, um jedem Menschen ein besseres Leben nicht nur zu ermöglichen, sondern spätere Regierungen an einem vielleicht sogar notwendigen Kahlschlag oder konsequenten Kürzungen an Sozialen Leistungen zu hindern.

Das ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel für Politische Newrotic. Während sich in Brandenburg ein paar Rechte treffen, um über die Rückführung von Geflüchteten zu diskutieren, wird der gesamte Bestand an integrierten und berufstätigen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund als Verhandlungsmasse ins Feld geführt, ohne zu überlegen, ob das, was der Identitäre und die 40 AfD-Politiker ohne hohe politische Ämter und Verantwortung bei Pils und Currywurst bei Marschmusik erquatscht hatten, wirklich so eine große Bedrohung für die Fernseh- und Medienredaktionen wäre. Jedenfalls sah man daraufhin – und das war tatsächlich niedlich anzuschauen – junge Schulmädchen unterschiedlichem ethnischen Ansehens mit Handschellen aneinandergekettet zur Schule und zum Eisladen gehen. Vielleicht so etwas wie der Erweckungsmoment einer jungen Generation, für den man den AfD-Politikern auch mal „Danke“ sagen kann, dass wenigstens die Jüngsten unserer Gesellchaft begriffen haben, dass es ohne eigenes Engagement in einer Demokratie nicht geht. Und Facebook und Tiktok kein sichtbarer Protest sind.

Politische Newrotic kann LGBTQ-All-Genders-Toiletten sein, die außer acht lassen, dass sich Menschen schämen, wenn sie auf der Toilette sitzen, und nebenan sitzt ein Vertreter oder Vertreterin des anderes Geschlechts, oder man möchte nicht mit allen Geschlechtskrankheiten konfrontiert werden, die diese gefährliche Welt so mit sich bringt, weshalb manch einer einfach die eigene Wohnung einer Raststätte vorzieht. Auch die obligatorische Umkleidekabine in jungen Jahren wurde in der Regel erst dann geentert, wenn nur noch die Gleichaltrigen nebenan waren, die man mochte und nicht ein völlig fremder Bestand an Schülerinnen oder Schülern. Denn was sich liebt, das gendert (ob mit oder ohne „die Regel“) nicht.

Überhaupt fällt mir gerade das Buch der jungen amerikanischen Autorin einer US-Eliteschule ein, die ihre Menstruation zum politischen Programm erhob, indem sie ein 500 Seiten-Werk schuf, wo es nur um Konsequenzen ging, die sich daraus ergaben, dass sie sich diesbezüglich den gleichaltrigen Studenten und Trainees einer Investmentbank oder Großkonzerns benachteiligt fühlte und zum ultimativem Gender-Pay-Gap ausholte, statt sich darüber zu freuen, dass sie später wenigstens weiß, dass das Kind, das sie auf die Welt bringt, von ihr ist und nicht, wie bei Männern, irgendwann im Laufe der Pubertät bei dem Sohn die Zweifel beim Vater entstehen, ob das Kind, dass er großzieht, nicht doch von seinem besten Kumpel aus der Unizeit stammt, oder vom netten Arbeitskollegen, bevor seine Ehefrau in den Mutterschutz ging.

Es gibt mehr Eheburch zwischen Himmel und Erde, als den Autoren der Bibel lieb ist, und dass Ehebruch genau deswegen für Männer wie für Abkömmlinge später zur leidvollen (im wahrsten Sinne!) Nagelprobe (haha!) wird, was nur ein enges Band und mindestens ein-zwei weitere Geschwister ausgleichen können, so dass sich Mann und Frau nach einer zerkrachten Nacht und etlichen Testamentsumschreibeterminen wieder in die Augen sehen können und der Mann sich eingeseht, es ja trotzdem genaus lieb zu haben, und unter Tränen ein Geständnis zum Moment werden kann, wo G’tt selbst in die Beziehung eintritt. Will man es vielleicht in einer anderen Perspektive sehen, dann darf man sich an etliche Patchwork-Familien erinnern, wo die Frau oder der Mann ein Kind „aus erster Ehe“ mit hineinbrachten und dass nicht zum emotionalen Krisengebiet für die neue Beziehung werden darf. Solche Schilderungen habe ich schon aus meinem Bekanntenkreis gehört, wo die Erziehungsberechtigung untergraben wurde, weil ein Elternteil nicht nur am Kind besonders hing, sondern an der zu Bruch gegangen Beziehung und deswegen eine emotionale Aufnahme und Adaption ausblieb und sogar bewusst oder unbewusst verhindert wurde.

Sieht sozialer Fortschritt, und zwar im Materiellen Sinn, nun einen Fahrstuhl vor oder ein eigener PKW? Um ehrlich skeptisch zu sein, Karl Popper sah den Fortschritt moralisch, und man dürfte sagen, es darf einen gesellschaftlichen Fortschritt ja durchaus geben, aber wer definiert den und sagt, was gewünscht wird und was eher vermieden werden sollte? Bedeutet ein moralischer Fortschritt, ich darf mit meiner Nachbarin auch dann Geschlechtsverkehr haben, wenn sie in einer Beziehung ist, weil der Mann ihr ja nicht vorschreiben darf, dass sie gefälligst treu zu sein hat und seine Wutanfälle diesbezüglich in einer neuen Form der häuslichen Gewalt enden, weil „es ihm nunmal nicht zusteht“. Auch hier habe ich 2008 die Erfahrung gemacht, dass unterschiedliche AUffassungen von Beziehungen auch auf einer Party zu Silvester dazu führte, dass die Freundin bei einer buddhistischen Sekte Asyl suchte, während ihr Freund als Katholik gerade innerlich den schon geplanten, aber noch nicht erfragten Hochzeitstermin aus seiner nächstjährig skizzierten Biographie strich. In dem Moment war mir klar, dass ein Band zwischen Mann und Frau so kostbar ist, und wer es zerstört, sei es durch falsche Sichtweisen, sei es durch Verführung durch Zuhilfelnahme von Drogen, einem moralisch verkommenen Freundeskreis, politischer Programmatik oder einfach nur weil er dem Mitbewerber schaden will, zerstört ein kleines Himmelreich und schafft in beiden die Hölle auf Erden, aus denen sie kaum mehr alleine rauskommen und rausfinden können. Wäre Treue nicht so ein hohes Gut, wir hätten keine Firmen, keine Familien, keine Nationen und keine Geschichten.

Gerade letzteres als Teil der Moral, eine gute Geschichte hat auch immer etwas mit moralischer Sinnsuche und Erfahrung zu tun, die wir selber nicht mehr machen wollen, weil wir sie ja schon im Kino oder zuhause auf DVD oder im Streaming-Portal gemacht haben. Wären Erfahrungen nicht so wichtig für unser Leben, wäre das Aufschreiben von Romanen und Lesen, wären Theater, Filme, wäre westliche Kultur vollkommen unnütz und sinnlos und das Konsumieren und Rezipieren überflüssig. Das ist im Grunde auch das Problem von Pornographie, dass sie etwas suggieren soll, was nicht da ist, um einem Mann oder einem Paar ein paar Momente Liebe zu ermöglichen, wo diese Erfahrung selber nicht gemacht wurde oder werden kann.

Frühere Liebesfilme hatten immer etwas unschuldiges. Die Sexszenen der 90er Jahre haben aus Stars auch Sexobjekte gemacht, wo man früher ins Kino ging, um nicht alleine zu Hause zu sein. Die These, dass man ins Kino geht, weil man alleine ist, wie man auch in einer Bar geht, weil man alleine zu Hause sitzt, ist nicht mehr so präsent. Man verabredet sich heute lieber vorher, über facebook und Tinder, und geht dann in eine Bar. Man will nicht „von der Seite angequatscht“ werden, und der moralische Fortschritt bedeutet in diesem Fall wiederum, dass Teilnahme am Leben mit „sozialen Netzwerken“ und Experience verbunden ist.

Wer demnach gar keine sozialen Kontakte hat, benötigt zumindest in einer Großstadt ein Auto, um nachts an illegalen Autorennen teilzunehmen. Dafür braucht man dann die soziale Fortschrittsklausel, nicht wahr?